Zwischen Purpose, Verantwortung und Fürsorge
Führung in selbstorganisierten Systemen ist weder verzichtbar noch eindeutig definiert. Sie verlagert sich – weg von Kontrolle, hin zu Klarheit, Haltung und gemeinsamer Zielorientierung. Dieser Beitrag diskutiert, wie Führungsverantwortung, Fürsorge und Purpose zusammenwirken und warum Führung gerade in agilen Organisationen unverzichtbar bleibt. Ergänzt wird der Blick durch die drei Energiefelder nach Norman Wolfe (The Living Organization), die helfen können, Herausforderungen in der Selbstorganisation besser zu verstehen – und zu gestalten.
Agile Organisationen setzen auf verteilte Verantwortung, rollenbasierte Zusammenarbeit und flache Hierarchien. Doch die Illusion völliger Gleichverteilung kann trügen. Wer führt eigentlich in selbstorganisierten Teams – und wie?
Die Holacracy-Verfassung bietet eine hilfreiche Unterscheidung: Die Rolle des Circle Lead ist verantwortlich dafür, dass der Kreis seine Aufgabe erfüllt. Sie definiert Prioritäten, weist Ressourcen zu und hält den Purpose des Kreises. Das ist keine klassische Führungskraft im traditionellen Sinne, aber es ist auch kein neutraler Koordinator. Vielmehr geht es um eine dienende Haltung, die Struktur schafft, Orientierung bietet und für Kohärenz sorgt.
Doch was bedeutet das im Alltag?
In einer Organisation kam es zu Spannungen im Team: Büropräsenzzeiten wurden unterschiedlich gelebt. Was offiziell galt, wurde informell unterlaufen – mit Frustration auf beiden Seiten. Eine Mitarbeiterin schätzte den sozialen, gemeinschaftlichen Aspekt der Bürozeit und empfand es als verletzend, wenn vereinbarte Präsenz nicht eingehalten wurde. Gleichzeitig blieb eine Reaktion auf struktureller Ebene aus – die zuständige Führungskraft hatte das Thema nicht aufgegriffen.
In einem begleitenden Coaching-Gespräch stand nicht die Problemlösung im Vordergrund, sondern die Frage: Wie kann die Coachin dazu beitragen, dass die zuständige Führungskraft ihre Verantwortung erkennt und wahrnimmt?
Zunächst ging es darum zu klären: Wer trägt hier die Verantwortung? Wer hat die Aufgabe – und die Befugnis – Konsequenzen einzufordern oder Orientierung zu geben? Und was könnte getan werden, um eine Lösung im Sinne des Teams und der Organisation zu ermöglichen?
Hilfreich war in diesem Zusammenhang das Modell des Circle of Influence, inspiriert von Stephen Covey. Es hilft, sich auf den eigenen Einflussbereich zu konzentrieren und bewusst zu machen, was gestaltbar ist – und was nicht.
Die Coachin konnte so zentrale Fragen anstoßen, die die Führungskraft weiterbringen können:
Das Ziel: Führungsverantwortung sichtbar machen, Raum für Reflexion schaffen – und die Bereitschaft stärken, aktiv zu gestalten, wo bisher Unsicherheit herrschte.
Spannungen wie diese sind selten nur ein Regelproblem. Oft spiegeln sie ein Ungleichgewicht in tieferliegenden Dynamiken wider – das bringt uns zum Modell der drei Energiefelder nach Norman Wolfe:
Gerade in agilen Organisationen ist die Aktions-Energie meist gut dokumentiert – Rollen, Prozesse, Tools sind beschrieben. Doch wenn Spannungen auftreten, liegt die Ursache häufig in einer Dysbalance der anderen Felder: mangelnde Zugehörigkeit, unklare Sinnstiftung oder fehlende emotionale Resonanz auf Entscheidungen.
Führung bedeutet in diesem Zusammenhang, nicht nur was getan wird zu klären, sondern auch warum – und wie miteinander.
Der Circle of Influence zeigt: Es ist wichtig, Menschen zu ermutigen, sich auf das zu konzentrieren, was sie aktiv gestalten können. Gleichzeitig darf diese Haltung nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch eine strukturelle Verantwortung gibt.
Führung in einer agilen Organisation heißt nicht, dass alle alles selbst regeln müssen.
Gerade in selbstorganisierten Teams braucht es Menschen, die Spannungen ernst nehmen, Themen halten und den Rahmen gestalten – im Sinne des Teams und des übergeordneten Ziels. Dabei geht es nicht um Kontrolle, sondern um Haltung: präsent sein, zuhören, Entscheidungen treffen, Orientierung geben.
Wo in deiner Organisation ist Führung heute vielleicht zu still – obwohl sie gebraucht würde?
Und wie könntest du selbst – als Coach, Kolleg:in oder Führungskraft – dazu beitragen, dass Verantwortung sichtbar und gestaltbar wird?